Seminar mit Lenin Raghuvanshi – eine Nachlese
"Local is true universal.
Local thinking, local-global action"
Lenin Raghuvanshi skizzierte für die BesucherInnen des Seminars kurz die wesentlichen religiösen, politischen, sozialen und ökonomischen Merkmale der indischen Gesellschaft. Neben dem mehr als dreitausend Jahre alten Einfluss der hinduistischen Religion und des Kastenwesens auf die Republik gibt es, so Raghuvanshi, in der indischen Gesellschaft Widersprüche und Ambivalenzen, die zwischen der feudalen, patriachalen und religiös dominierten Vormoderne und dem städtischen, aufstrebenden, liberalen und demokratischen Indien bestehen und nebeneinander existieren.
Ein Beispiel dafür: Obwohl das Kastenwesen am 26. Januar 1950 mit der Gründung der Republik Indien in der Verfassung abgeschafft wurde, dominiert es den Alltag von Millionen Menschen und lässt sich für das kapitalistische Wirtschaftssystem modifizieren. Im Wesentlichen stellt die indische gesellschaftliche Struktur nach wie vor eine Pyramide dar, in der die unteren Kasten 85% der Arbeit leisten, jedoch die oberen 15% fast 90% des Besitzes innehaben. Die Zahl der Dalits ("Unberührbare") und Mitglieder der unteren Kasten wird auf ca. 240 Millionen in Indien geschätzt. Damit stellen sie fast ein Viertel der indischen Bevölkerung dar. Die Mehrzahl der Dalits hat geringen Zugang zu Gesundheitsversorgung und zu Sozialprogrammen. Sie verrichten die niedrigsten Berufe und Tätigkeiten, drei Viertel von ihnen haben keine Schulbildung. Besonders dramatisch ist die Situation der Frauen in diesem System, da das Kastenwesen ein ausgeprägtes patriachales Gedankengut mit transportiert.
Grassierender Rassismus, strukturelle und manifeste Diskriminierung sowie eine Kultur der Alltagsgewalt sind die Erscheinungsformen. Dazu kommt eine korruptes System der höheren Kasten, dass sich in nahezu alle Felder der Gesellschaft fortsetzt (Justiz, Medien, Gesundheit und soziale Verwaltung, Schule und Bildung...). Die Auswirkungen sind massive Verletzung der Grund-, Menschen- und Bürgerrechte der Dalits und anderer niederer Kasten. Ebenso hervorhebenswert ist die grassierende Straflosigkeit, die bei Vergehen der höheren Kasten gegen untere Kasten üblich ist.
Im zweiten Teil des Vortrags beschreibt Raghuvanshi die von ihm gegründete Organisation PVCHR, die 1996 als NGO in Varanasi (früher Benares) im Bundesstaat Uttar Pradesh zu arbeiten begann. Die Organisation arbeitet als Basisorganisation in mehr als 45 Dörfern in der Gegend um Varanasi. Dabei entwickelt PVCHR ein enges Netz mit lokalen Organisationen vor und um den Grundsatz von Empowerment-Strategien. Die DorfbewohnerInnen gilt es dabei zu unterstützen, damit sie ihre Grundrechte einfordern und durchsetzen können; etwa wenn Hunger im Dorf herrscht, oder Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert wird, oder Dalits von der örtlichen Polizei gefoltert oder misshandelt wurden.
Dabei verwendet PVCHR die Instrumente der Tribunale (öffentliche Foren mit den DorfbewohnerInnen; etwa gemeinsam gegen Folter und Polizeiwillkür) und öffentliche Kampagnen (für das Recht auf Zugang zur Bildung). PVCHR versteht sich als Lautsprecher für jene, die keine Stimme haben. PVCHR verstärkt Vorwürfe und Missstände, die von den direkt vor Ort betroffenen Menschen erhobenen werden und verbreitet sie, gibt ihnen regional oder national Gewicht; durch Kampagnen und moderne Formen von Verbreitung und Öffentlichkeitsarbeit (Internet, e-Mail-Kampagnen, blogspots u.a.). PVCHR arbeitet im Falle von Gewalt (Misshandlung, Rassismus, Folter, Vergewaltigung) durch staatliche Organe vor allem mit der "Testimonial Therapy" – einer Mischform von therapeutischem Arbeiten und öffentlichem Bekenntnis. Die Opfer erzählen ihre Geschichte, die dann aufgeschrieben und öffentlich an sie zurück übergeben wird und so auch eine breitere und öffentliche Wirkung besitzen. Die verantwortlichen Behörden und Regierungsstellen werden zu Stellungnahmen aufgefordert und mit den Taten konfrontiert.
Wichtig, so Lenin Raghuvanshi, sei es dem PVCHR, dass es dabei um nachhaltige Strategien und langfristige Veränderungen gehe. Die DorfbewohnerInnen sollen auch an Strukturen arbeiten, die zur Verbesserung der sozialen und politischen Situation aller führen. Eine weitere Vision von PVCHR stellt eine Gesellschaft dar, die sich durch eine Menschenrechtskultur auszeichnet – d.h. eine Gesellschaft fern von feudalen und faschistischen Systemen, die Gewalt, Folter, Ausgrenzung und Diskriminierung ermöglichen. Auch hier hat PVCHR Kampagnen entwickelt – wie etwa die "People friendly villages" oder die "torture-free villages", die das Empowerment, den nachhaltigen Umgang und die Strukturen der kleinen Dörfer und Orte nachhaltig verändern. PVCHR hält sich an den simplen Wahlspruch, dass man allein wenig ausrichten kann, aber wenn es viele sind, entsteht Kraft und Energie.
In Dörfern um und in Stadtteilen von Varanasi werden rund um bereits bestehende Gemeindezentren auch Aktivitäten wie Alphabetisierung, Menschenrechtsschulungen oder Kinderparlamente durchgeführt. Zugang zu Informationen, Basisversorgung der Dorfgemeinschaft (wie etwa Schule mit Mittagessen), Sicherung der Gesundheitsversorgung sind dabei vordringliche Aktivitäten.
Da das lokale Arbeiten nach Ansicht von Raghuvanshi nicht ausreicht, ist PVCHR höchst aktiv im internationalen Austausch; nicht nur als "Kampagnenmotor" zur Verbreitung von Informationen sondern auch als professioneller Austauschpartner und lernende Organisation. Auf internationaler Ebene besteht etwa eine weltweite Vernetzung mit den Vereinten Nationen, dem IRCT (International Rehabilitation Council for Torture Victims), der Europäischen Union und Amnesty International.
English Translation by Ms. Frauke Bergmann,Germany:
Seminar with Lenin Raghuvanshi- some afterthoughts
"Local is true universal.
Local thinking, local-global action"
For the attendants of the seminar Lenin Raghuvanshi outlined the essential religious, political, social and economical features of Indian society. Beside the influences Hinduism and Caste system had on the republic for more than 3000 years, there are, Raghuvanshi stated, contradictions and ambivalence between the feudal, patriarchal and religious dominated pro-modern and the urban, aspiring, liberal and democratic India which exist side by side.
An Example: Despite the abolition of the caste system in the constitution on 26. January 1950 with the foundation of the republic of India it is still dominating everyday life of millions of people and is modified for the use in the capitalist economic system. Basically the structure of the Indian society is still represented by a pyramid in which the lower castes do 85% of the work, but the upper 15% own nearly 90% of the property. The number of Dalit ('untouchables') and other members of the lower castes are estimated to be around 240 million in India. With this they represent nearly ¼ of the Indian population. The majority of Dalits has little access to healthcare and social programmes. They perform the lowest occupations and activities, ¾ of them have never attended schools. Particularly dramatic is the situation of the women in this system, because the Caste system is transporting a distinct patriarchal mindset.
Racism, structural and manifest discrimination as well as a culture of everyday violence are its manifestations. In addition there is the corrupt system of the upper castes which is extended to nearly all fields of society (judiciary, medicine, Healthcare and social administration, School and education…). Results are massive violations of the fundamental-, Human-, and civil rights of the Dalits and other lower castes. Further there is the impunity to highlight which is common in cases of offence committed by the upper castes against the lower castes.
In the second part of his speech Raghuvanshi describes the organisation PVCHR, which was founded by him and started to work in 1996 as a NGO in Varanasi (former Benares) in the federal state of Uttar Pradesh. The Organisation works as a Grass root organisation in more than 45 villages in the surroundings of Varanasi. For this PVCHR developed good networks with other local organisations around the policies of empowerment strategies. It is the aim to support the village people in demanding and implementing their fundamental rights, for example in cases when there is hunger in the villages, access to healthcare is denied, or when Dalits are abused and tortured by the local police.
For this PVCHR is using the means of tribunals (public forums in which villagers are together protesting and testifying against torture and police arbitrariness) and public campaigns (e. g. for the right of access to education). PVCHR understands itself as a loudspeaker for those, who don't have a voice. PVCHR amplifies and spreads reproaches and grievances which are highlighted by the local people who are directly affected; it gives weight to them on regional or national scale through campaigns and modern means of distribution and public relations (Internet, e-mail campaigns, blogspots, etc.). In cases of violence by government officials (abuse, racism, torture, rape) PVCHR is working with the "Testimonial Therapy"- a mixed form of therapeutically work and public Testimonial. The Victims tell their story which is then written down and delivered back to them in public, which gives a brought and public effect to it. The (governmental) authorities are requested to give investigative statements and are confronted with their wrong doings.
According to Raghuvanshi it is very important for PVCHR to be involved into sustainable strategies and they aim at long lasting changes. The village people shall furteh work on structures which will contribute to an improvement of the social and political situation of all of them. A further vision of PVCHR is a society which is marked by a Human rights Culture – that means a society without feudal and fascist systems, which enable violence, torture, exclusion and discrimination. For this aim PVCHR has developed campaigns – like the "People friendly villages" or "Torture free villages", which shall increase the empowerment of the villagers and change the structures in the small villages and contribute to a sustainable living on the long term. PVCHR is guided by the simple slogan that it is difficult to change anything, when you are alone, but when you are many, power and energy is developed.
In villages around Varanasi and in some quarters of the city, in the context of already established community centres, activities like alphabetisation, Human Rights education or children's parliaments take place. Creating access to information, basic maintenance of the village community (like a school with a midday meal), securing of health care facilities are among the most urgent tasks.
According to Raghuvanshi the local work is not enough, therefore PVCHR is very active in processes of international exchange, not just as a "Motor of campaigns" for the distribution of information but also as a professional exchange partner and learning organisation. On the international level there are global connections with the United Nations, with the IRCT (International Rehabilitation Council for Torture Victims), with the European Union and Amnesty International.
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